Schließlich kommt nicht jeder auf die Idee…
…als 18-jähriger seinen Zivildienst in Israel zu absolvieren. Was ist da passiert?
Ich bin 20 Kilometer entfernt von Auschwitz aufgewachsen. Und hatte keinen blassen Schimmer davon, was dort eigentlich passiert ist. Als mir das irgendwann mal dämmerte, war klar: Das geht mich was an. Ich muss das verstehen. Und das geht nur, wenn ich die eigene Komfortzone überwinde, rausgehe in die Welt, über den eigenen Tellerrand schaue. Also Israel. Wo sonst lässt sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte hautnah nachvollziehen?
Dieses Bedürfnis sich in die Welt zu begeben, Neuland zu entdecken, immer wieder zu staunen, Fremdes zu verstehen statt darüber zu urteilen, das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.
“Wer zieht denn bitte Vergleiche zwischen den Slums Ghanas und den Verhältnissen in europäischen Großkonzernen?”
Das gab bei mir sicher auch den Ausschlag, Ethnologie zu studieren. Die vielen Reisen an die entlegensten Orte, Auftritte auf nepalesischen Dorftheatern, nächtliche Wanderungen durch asiatische Gebirge, die Teilnahme an Geisterbeschwörungen und Besessenheitsritualen – all das verlangte nach Erklärungen, nach einem schlüssigen Zusammenhang. Vieles, was ich auf meinen Reisen und während meiner Feldforschung in Ghana erlebt habe, sah von außen betrachtet ziemlich verrückt aus. Aber das musste ja irgendeinen Sinn ergeben für die Menschen, die das als Teil ihres Alltags empfanden.
Diese Zusammenhänge zu verstehen, die Spielregeln zu entziffern, nach denen so ein soziales Geschehen funktioniert: das war Abenteuer und Faszination zugleich.
Nach meiner Rückkehr aus Afrika und der anschließenden Promotion an der Albert-Ludwigs Universität in Freiburg habe ich eine Weile gebraucht um darauf zu kommen, dass die Grundhaltung des Ethnologen – die teilnehmende Beobachtung – auch in anderen, weniger exotischen Kontexten sehr viel Sinn macht. Zum Beispiel bei der Arbeit von Managern. Auch die brauchen eine gut balancierte Mischung aus Nähe und Distanz, um wirksam zu führen. Und agieren über weite Strecken auf unbekanntem Terrain: in sozialen Spielen, in denen die heimlichen Spielregeln des Erfolgs und der eigenen Wirksamkeit schwer durchschaubar sind. Man muss ja nicht gleich Dilbert bemühen, um dem Alltag in Großkonzernen mit einer gewissen Verwunderung zu begegnen. Zu diesen Einsichten hat meine Zeit bei Mercedes-Benz sicher einen großen Teil beigetragen.
“Was um Himmels Willen haben Ethnologie und Wirtschaft miteinander zu tun?”
Eine ganze Menge! Fakt ist: Ohne zu verstehen, wie so eine Kultur tickt, nach welchen Spielregeln sie funktioniert und wie diese heimlichen Spielregeln genutzt werden, um Interessen durchzusetzen, Ziele zu erreichen, um Wirkung zu erzielen – ohne Regelkenntnisse machen all diese sozialen Spiele schlicht keinen Sinn. Das ist wie beim Fußball. Ständig fragt man sich, warum sich denn niemand einfach den Ball unter den Arm klemmt und losrennt.
Wenn ich in all den Jahren der Arbeit mit Großunternehmen eines gelernt habe, dann dies: möglichst schnell hinter die Fassade zu schauen, um die Spielregeln zu verstehen, nach denen so ein soziales System tickt. Teilnehmen und Beobachten. Immer wieder neu. Das muss jede Managerin, jede Führungskraft auch – außer sie sind als Frühstücksdirektor unterwegs. Aber das fällt natürlich leichter, wenn man von außen kommt, also zunächst einmal nicht Teil des Spiels ist. Aber glauben Sie mir: man kriegt nichts sauber, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.
Routinen sind wie Schlafmittel. Man kommt durch die Nacht. Aber mehr auch nicht.
“Das hört sich nach einem ganz schön bunten Lebenslauf an, oder?”
Ja, das stimmt. In Bewegung zu bleiben, neugierig zu sein, Neues auszuprobieren, die Begrenzungen eingespielter Routinen in Frage zu stellen, die eigenen Komfortzonen zu schützen, aber auch aufs Spiel zu setzen – das alles motiviert mich sehr. In meiner Arbeit, auf meinen Reisen, bei all den Projekten und Unternehmungen, die ich in den letzten Jahrzehnten vom Zaun gebrochen habe.
Und was sich vielleicht ein wenig nach einem bunten Sammelsurium unterschiedlicher Aktivitäten anhört, folgt einem gemeinsamen Nenner. Und der heißt schlicht Zukunftsfähigkeit. Es geht mir in meiner Arbeit einfach darum, Möglichkeitsräume zu schaffen, Platz zu machen für Neues. Routinen in Frage zu stellen, die Schein-Sicherheit versprechen, wo eher Aufbruch gefragt wäre. Es geht mir darum, Wahlmöglichkeiten einzuführen. Gewissheiten in Frage zu stellen, die der eigenen Neugier und Gestaltungslust im Weg stehen. Dem „Why not“ statt dem „Yes, but“ Vorrang zu geben.
“Bis hierhin und wie weiter?”
Mich beschäftigt mehr denn je, dass wir uns zusehends in der Gegenwart verheddern. Wir schauen gebannt auf das Bestehende, halten uns daran fest wie eine Oma an ihrer Handtasche. Statt unserem Möglichkeitssinn zu nutzen, arrangieren wir uns schulterzuckend mit einem Alltag voll Beschäftigung. Selbstzufriedene Routinen und ausgetretene Pfade, wohin man blickt. Wo eigentlich aber Mut und Entschlossenheit gefragt wären. Um Hand anzulegen bei der Gestaltung einer attraktiven Zukunft, die ganz sicher nicht einfach so vom Himmel fällt.
Das Anliegen bekommt besondere Brisanz durch die gegenwärtigen Umbrüche, die uns geradewegs in eine nächste, digitale Gesellschaft führen. Ich glaube, dabei wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Wenn es uns nicht gelingt, einen zivilisierten Umgang mit all den technologischen Errungenschaften zu entwickeln, die uns und unseren Alltag in Atem halten, dann verspielen wir die Chance auf eine lebenswerte Zukunft. Künstliche Intelligenz, allgegenwärtige Roboter, sich selbst optimierende Algorithmen, schwindelerregende Datenmengen, die nach weiterer Vernetzung lechzen – all das macht uns immer mehr zu Zuschauern unseres eigenen Schicksals.
Was wir brauchen sind neue Kulturtechniken, die uns einen kritischen und konstruktiven Umgang mit diesen neuen Entwicklungen ermöglichen. Der Rückzug in die Schrebergärten vergangener Zeiten, das Ausruhen auf den Erfolgen von Gestern, die Sehnsucht nach heiler Welt und einfachen Lösungen, diese ganze rückwärtsgewandte Lust an Retropien statt Utopien sind Sargnägel für unsere Zukunft. Und damit wächst das Risiko.
“Das schaut nach viel Arbeit aus – ist hier ein rastloser Junkie am Werk?”
So ein Blödsinn. Ich liebe meine Arbeit – aber die ist weiß Gott nicht alles. Ich reise leidenschaftlich gern. Oder genieße gute Musik. Das war übrigens schon zu Jugendzeiten so. Als Drummer in einer der ersten Hip-Hop Bands im Süden Deutschlands etwa (McOetker and the Motherfucking Kochstudio – der Name sagt eigentlich alles). Oder bei wilden Reiseprojekten: von der Mittelmeer-Umrundung mit dem Rad bis zur Sahara-Durchquerung mit einer alten BMW gibt es einige Abenteuer, an die ich heute mit einer gehörigen Portion Respekt zurückdenke. Schon auch manchmal einfach nur Glück gehabt damals. Die Zeit zähmt dann irgendwann die Exzesse der Jugend. Aber ich genieße es bis heute, in Jazzmusik zu versinken oder im Sattel einer alten Honda das Bergland von Myanmar zu erkunden. Gute Gespräche, ein herzhaftes Lachen, oft genug auch über sich selbst: All das ist für mich wie ein Jungbrunnen.
An der Gegenwart halten wir uns fest wie die Oma an ihrer Handtasche!